Demokratie - Was hat das mit mir zu tun?

Carolin Reif 10.05.2022 Lesedauer 3 Min.

Vor einem Jahr startete beim IB Berlin-Brandenburg das Projekt „Einfach Demokratie?!“ - gefördert von der Lottostiftung Berlin. Mitten im bundesweiten Lockdown planten die Kolleg*innen Workshops, Kurse und Fortbildungen zum Thema Demokratie und Menschenrechte, ohne zu wissen, wann die Angebote tatsächlich stattfinden können. Mittlerweile fanden einige der Seminare statt und sowohl Kursleiter*innen als auch das Projektteam sind mit den Ergebnissen zufrieden. Hier geben sie einen kleinen Einblick in zwei der Projekt-Formate.

„Die hab‘ ich schon mal gesehen, die will der neue Chef von Berlin werden.“ – Franziska Giffey hätte wohl kein Problem mit dieser Aussage, obwohl sie sich – seitdem sie im Roten Rathaus sitzt – eher mit ‚Regierende Bürgermeisterin‘ anreden lässt. Aber darauf kommt es gerade nicht an. Im Herbst 2021 liegen vor den Teilnehmenden der Berufsvorbereitung am Standort Neukölln zirka 15 verschiedene Bilder von Politikerinnen und Politikern. Namen und Berufsbezeichnung liegen auf extra Karten darum herum. Die jungen Erwachsenen, die eben noch im Stuhlkreis saßen, knien nun auf dem Boden auf dem Boden und schauen sich die Bilder an. Sie machen Witze über Frisuren und Gesichter. Referentin Annika Gemlau beobachtet die Teilnehmenden und erinnert an die Aufgabe: Die Gesichter den Namen und Berufsbezeichnungen zuordnen. Das ist für viele schwieriger als gedacht. Namen und Gesichter sind mehr oder weniger bekannt – aber welche politische Position haben die Personen? Fragende Blicke gehen in Richtung Annika Gemlau; ratloses Schulterzucken. Am Ende wird aufgelöst und korrigiert.

Doch das Wissen über die gesuchten Personen steht bei dieser Aufgabe nicht unbedingt im Vordergrund. Vielmehr geht es um die Themen, die mit den Personen verknüpft werden: „Die will, dass in der Stadt keine Autos mehr fahren.“, „Der ist doch wegen Corona ständig im Fernsehen.“, „Der sagt, Ausländer schmeißen überall ihren Müll hin.“ – Diskussionen entzünden sich und Annika Gemlau gibt den Teilnehmenden den Raum, darüber nachzudenken und nicht sofort reagieren zu müssen. Schließlich ist das kein normaler Unterricht, sondern der Kurs „Wir haben die Wahl?!“ im Rahmen des Projekts „Einfach Demokratie?!“. An drei aufeinander folgenden Terminen konnten sich die Teilnehmenden der Reha-Berufsvorbereitung, der Reha-Ausbildung und der BaE koop in kleinen Gruppen über ihre Beteiligung und Rolle in einer demokratischen Gesellschaft austauschen. Als Format der inklusiven politischen Bildung ging es dabei eben nicht um ein frontales Lernen und Abfragen von Wissen. Vielmehr sollten die Teilnehmenden herausfinden, was in ihrem eigenen Leben politisch ist und wie sie darauf Einfluss nehmen können. Im Zuge der Bundestags- und Abgeordnetenhauswahlen ging es auch um die politischen Institutionen und damit verbundenen Ämter.

Inklusiv – aber wie?

Unsere Veranstaltungen sind keine klassischen Formate der politischen Bildung. Unter Berücksichtigung eines inklusiven Ansatzes zeichnen sie sich durch ihren Bezug zur Lebenswirklichkeit der Teilnehmenden, die Nutzung interaktiver Methoden und die Reduzierung von theoretischem „Tafellernen“ aus. Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist die Nutzung von Sprache. Das Konzept der leichten Sprache, das in vielen Inklusionskursen genutzt wird, kommt bei uns, anders als ursprünglich gedacht, nicht zum Einsatz. Der Mix von gesprochener Sprache und audiovisuellen Inhalten (in Form von Bildern und Piktogrammen, aber auch Videos und Hörbeiträgen) trägt zu einer übergreifend besseren Verständlichkeit bei. Die Kursleiterinnen und Kursleiter orientieren sich in ihrem Gebrauch von Fachbegriffen am Wissensstand der Teilnehmenden. Sie hinterfragen diese Begrifflichkeiten aber auch und setzen Grenzen, wenn zum Beispiel Diskriminierungen reproduziert werden. Denn die Kurse sollen für alle ein sicherer Raum sein, in dem die Teilnehmenden ihre Meinung frei äußern können und respektvoll miteinander umgehen.

Das "Wir" definiert niemand allein.

"Bei dem Thema seid ihr euch zu einig. Wir nehmen einen der anderen Vorschläge, sonst kommt ihr nicht ins Streiten.", sagt Trainer Max Barnewitz mit einem schelmischen Lachen. Die zehn anwesenden Fachkräfte des IB Berlin-Brandenburg und der USE Union Sozialer Einrichtungen lachen ebenfalls – aber etwas unbehaglich kann einem schon werden. Die Präsentation an der Wand zeigt verschiedene politische Fragestellungen: "Sind die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine angemessen?", "Findet ihr eine gendersensible Sprache sinnvoll?", "Sollte die AfD zu Podiumsdiskussionen in den eigenen Stadtteil eingeladen werden?". In Kleingruppen wird herausgearbeitet, welche Werte sich hinter den möglichen Antworten auf diese Fragen verbergen können. "Ihr habt 30 Minuten Zeit – Los geht’s!" Das Gewusel im Raum geht in konzentriertes Arbeiten über. Fragende Gesichter in Richtung Kursleitung gibt es aber auch hier bei den Fachkräften. Sind diese Themen nicht zu komplex, um sie auf ein einfaches Schema herunter zu brechen?

Als wir im Frühjahr 2021 damit begannen, die Fachkräfte in den Berliner IB Einrichtungen nach ihren Fortbildungswünschen zu fragen, kam mit Abstand am häufigsten der Wunsch nach einem Argumentationstraining. Ein Jahr später lernen die Teilnehmenden im Kurs "Steitet Euch! Kommunikationstraining für eine demokratische Streitkultur" nicht nur etwas für die alltägliche Fahrt mit der S-Bahn oder die Warteschlange an der Supermarktkasse. Auch im Einrichtungsalltag sind wir immer wieder mit verallgemeinernden Aussagen, Stammtischparolen oder diskriminierenden Begrifflichkeiten konfrontiert. Handlungssicherheit wünschen sich die Teilnehmenden, im besten Falle Schlagfertigkeit. Doch das lernt man nicht an einem Fortbildungstag im geschützten Raum. Im Umgang mit Stammtischparolen und populistischen Meinungen kann es auch nicht darum gehen, das letzte Wort zu haben. Darauf weist Max Barnewitz immer wieder hin. Es geht vor allem darum, sich selbst und seine eigene Haltung zu begreifen und zu hinterfragen, offen an sein Gegenüber heranzutreten und gleichzeitig die eigenen Grenzen zu wahren. Fazit des Tages: Streit kann auch verbindend wirken – in einer Demokratie ist er unerlässlich.

Insgesamt konnten wir im ersten Projektjahr (unter Pandemiebedingungen) drei Fortbildungstage im Bereich der politischen Bildung für unsere Berliner Kolleginnen und Kollegen organisieren. In all unseren Workshops und Fortbildungen geht es darum, miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch und gerade über die Dinge, bei denen wir unterschiedlicher Meinung sind, die uns vielleicht unangenehm sind oder für die wir brennen.
In diesem Sinne freuen wir uns auf unseren Aktionstag "Gel(i)ebte Demokratie – Was hat das mit mir zu tun?" am 29. Juni 2022 am Bildungsstandort des IB in der Neuköllnischen Allee, zu dem alle Kolleginnen und Kollegen sowie Menschen aus den Einrichtungen des IB Berlin-Brandenburg herzlich eingeladen sind, um gemeinsam über ein demokratisches Miteinander zu diskutieren.

Carolin Reif

arbeitet seit 2021 beim IB Berlin-Brandenburg. Als pädagogische Mitarbeiterin betreut sie das Projekt „Einfach Demokratie?!“ und ist Prozesseignerin im Bereich…

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