#offen geht! Jugendmigrationsdienste Potsdam und Marzahn in Aktion

Andrea Zimmer 26.10.2022 Lesedauer 5 Min.

Jedes Jahr Ende September finden bundesweit die interkulturellen Wochen statt. Ein wichtiger Termin im Kalender der rund 500 Jugendmigrationsdienste (JMD), die sich mit großem Engagement beteiligen und auch damit ein Zeichen setzen für ein gutes und respektvolles Miteinander. Für den IB Berlin-Brandenburg wurden auch in diesem Jahr der JMD in Potsdam und in Marzahn aktiv und gaben dem Motto auf unterschiedliche Weise ihren Raum. Während Potsdam zu einem Get-Together mit Kunst, Kultur und Kommunikation einlud, wagte „Marzahn“ sich unter Anleitung des deutschen Rappers PTK an diese keineswegs leichte Form des Ausdrucks. Beide Veranstaltungen zeigten sich gleichermaßen künstlerisch – kulturell – kreativ.

Es lohnt ein kleiner Blick auf die Entstehung und Bedeutung der „Interkulturellen Woche“, einer Initiative, die gesellschaftliche Diskussionen anstößt und das schon seit vielen vielen Jahren.

Vom „Tag des ausländischen Mitbürgers“ zur Interkulturellen Woche IKW

1975 waren es aktuelle gesellschaftliche Beobachtungen, die die großen christlichen Kirchen in Deutschland veranlassten, den „Tag des ausländischen Mitbürgers“ – die heutige ‚Interkulturelle Woche‘ -  ins Leben zu rufen. Nach dem Anwerbestopp 1973 wurde deutlich, dass Politik und Gesellschaft eine folgenschwere Fehleinschätzung gemacht hatten: Denn die ausländischen Arbeitskräfte hielten sich keineswegs nur vorübergehend in der Bundesrepublik auf und kehrten eben nicht, wie viele dachten, in absehbarer Zeit wieder in ihre Herkunftsländer zurück. Es fehlten politische Rahmenbedingungen sowie soziale und gesellschaftliche Integrationsangebote. Die Arbeitsmigranten sahen sich bestenfalls mit der Erwartung konfrontiert, sich vollständig an die deutsche Gesellschaft anzupassen und sich zu assimilieren.
Bereits 1978 formulierten die Kirchen in ihrem Gemeinsamen Wort zum Aktionstag: „Für viele (...) ist die Bundesrepublik zum Einwanderungsland geworden.“ Über Jahrzehnte hinweg galt aber als Dogma der deutschen Ausländerpolitik: “Deutschland ist kein Einwanderungsland“.

„Es wurden Arbeitskräfte gerufen, es kamen aber Menschen!“

Max Frisch. Zunehmend wuchs das Bewusstsein für die absolut grenzenlose Bedeutung von Integration und gleichermaßen rückte die Namensgebung „Ausländische Mitbürger“ in die Kritik. Der assoziative Klang der Worte wirkte konstruiert und theoretisch, veraltet und keineswegs integrativ. Zunehmend weniger Menschen fühlten sich davon angesprochen. Ab 1991 setze sich daher der Name „Interkulturelle Woche“ durch.
Sie findet in der Regel in der letzten Septemberwoche von Sonntag bis Sonntag statt und schließt damit den „Welttag des Migranten und Flüchtlings“ ein. Im Laufe der vielen Jahre hat die IKW stets an Bedeutung gewonnen, denn sie dient als große „Plattform“, um Themen wie Rassismus, Flucht, Vertreibung, Diskriminierung, Vielfalt uvm. sichtbar zu machen. Mittlerweile finden bundesweit anlässlich der IKW mehr als 5000 Aktionen in mehr als 500 Städten und Kommunen statt.

Auch für den IB Jugendmigrationsdienst ist die interkulturelle Woche ein fester Eintrag im Kalender und wir waren zu Gast bei den Teams Potsdam und Marzahn.

#offen geht ! - zeigt der Jugendmigrationsdienst in Potsdam

Am 29. September standen die Türen des Kunst- und Kulturhauses „Rechenzentrum“ in Potsdam für viele und Vieles in jeder Hinsicht offen. Der JMD Potsdam und die Respekt Coaches – in Persona Marie Kauer, Lina Nölle, Stephan Schneider - haben zu einem bunten Get-Together eingeladen und mit einem lebendigen Programm den interkulturellen Anlass und den künstlerisch-kulturellen Ort perfekt in Szene gesetzt. Kultur traf auf Kunst, Menschen trafen Menschen, Gedanken und Erfahrungen fanden Worte und trafen auf viel offene Ohren. Interessiert und kommunikativ zeigten sich auch Potsdams Integrationsbeauftragte, Dr. Amanda Palenberg und Isabelle Vandre, die für Die Linke unter anderem im Jugendhilfeausschuss sitzt. Bei kulinarischen Feinheiten mit osteuropäischer Note, konnten sich die Gäste ganz persönlichen über die Arbeit des JMD und die der Respekt Coaches in Potsdam informieren.

Unter Anleitung der farbenfroh lächelnden Nora Fritz durfte, wer wollte, sich mit eigenen Händen an seinem Siebdruck versuchen. Jetzt verziert das „die ganze Welt umarmende“ Motiv so einige handmade-printed-Stoffbeutel und verleiht so dem bedeutenden Wert von menschlicher Offenheit plakativ und leuchtend einen „tragenden“ Ausdruck.  

Was aber, wenn Toleranz und Gemeinsamkeit von Ausgrenzung, Krieg und Macht bedroht sind? Diese Gedanken vermochten Sayed mit seinen Bildern und Sauti é Haala mit ihrer Musik sehr berührend und nachhaltig anstoßen.

SAYED MUHAMMAD HUSSAINY - Digital Artist

Sayed wurde in Afghanistan geboren, hat dort gelebt und fast 8 Jahre gut und sehr gern als Cartoonist gearbeitet. Seine Kunden sind dabei so erstaunlich wie beeindruckend, denn er war für eine führende Tagezeitung des Landes, die Stadtverwaltung in Kabul, die Europäische Union, GMIC (Government media and information) und die Presse des Präsidenten tätig. Nach der Machtübernahme der Taliban, gab es für ihn keinerlei Sicherheit mehr, die Bedrohungen nahmen zu und er floh über Pakistan nach Deutschland, wo er heute in einer Gemeinschaftsunterkunft des IB in Potsdam wohnt. In seinen aktuellen Bildern bringt er den kriegerischen und bedrohlichen Zustand seiner Heimat auf eindringliche Weise zum Ausdruck. Insbesondere thematisiert er die Auswirkungen der Machtübernahme auf das Leben der Frauen und Mädchen, der Sieg von Unterdrückung über jeglich Form der Freiheit. Seine Bilder machen sprachlos, aber die so offene und interessierte Art von Sayed ließ dennoch oder gerade deshalb viele Gespräche entstehen.

Sauti é Haala - Musiker der vielen Sprachen

Schon der Name dieser Band verbindet zwei Sprachen und ist bezeichnend für das, was sie mit ihrer Musik zum Ausdruck bringen. Sauti ist Suaheli undbedeutet "Klang", Haala entstammt der Sprache der Fulani, der letzten nomadisch lebenden Hirtenvölker Westafrikas und heißt "Wort". Die vier afrikanischen Musiker*innen setzen sich kritisch mit dem Kolonialismus und ihrem selbst erlebten Rassismus auseinander. Gleichermaßen stellen sie diesen feindlichen Prozessen die Kraft von Liebe, Freiheit und Lebensparadigmen gegenüber - musikalisch und menschlich ebenso sensibel wie authentisch. Neben ihrer spährischen und rhytmusgeprägten Musik, suchen sie auch das Gespräch mit dem Publikum und erzählen von ihren Erfahrungen. Nachdenklich wird es in jenem Moment, da Sänger Abdou Rahime Diallo dem jungen Mann, Valentine das Wort gibt. Aus Nigeria kam er in die Ukraine, um dort ein besseres Leben zu führen und seine Familie in der Heimat zu ernähren. Der Krieg zwang ihn zur Flucht in ein Land, in dem er glaubte Frieden und Freiheit zu finden. Immer mehr aber begegnen ihm hier in Deutschland nun selbst Ausgrenzung und Hunger. Valentine ist offen, motiviert und lacht gern, aber er muss erfahren, was es heißt, nicht weiß zu sein! - Wir schreiben das 21te Jahrhundert!
Abdou aber betont auch die Offenheit, die er in Deutschland und insbesondere an diesem Abend erleben und teilen darf: "In vielen Ländern ist es nicht möglich, so wie hier und jetzt auf eine öffentliche Bühne zu treten und über private, persönliche Dinge zu reden."

Offen sein, kann Freiheit schenken und Mut kosten !
Das zeigt der JMD Marzahn - Hellersdorf

Auch für den JMD in Berlin ist die interkulturelle Woche ein fester Bestandteil ihrer Planung. In diesem Jahr veranstalteten sie einen Rapworkshop mit Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft und konnten dafür den keineswegs unbekannten Rapper PTK gewinnen. Die Idee ist großartig, die gelungene Umsetzung aber trägt eine entscheidende Variable. Wer traut sich, vom Meister zu lernen, Texte zu erfinden und dann selbst das Herz samt Mikrophon in die Hand zu nehmen? Die Neugier siegte bei neun Jugendlichen und PKT vermochte es, die anfängliche Scheu in Offenheit, Mut und viel Spaß zu verwandeln. Nicht zuletzt war es auch seine stets unvoreingenommene und verständnisvolle Art, die eine ungezwungene und angstfreie Atmosphäre erschaffen kann. Das verwundert nicht, denn PKT ist unter anderem für "Rapper ohne Grenzen" unterwegs. In seiner Umschreibung von oft  alltägliche Situationen, setzt er sich für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus ein. Er engagiert sich für Kinder und Jugendliche insbesondere in sogenannten Brennpunkten und gibt ihnen eine Stimme.

Rap bedeutet so viel wie "Geplauder, Schwatz, Unterhaltung", was zunächst recht banal und belanglos klingt, aber der Schein trügt. Rap ist keineswegs belanglos, er hat so einige Besonderheiten. Eine davon ist, dass sich gerade junge Menschen in und mit diesem Genre sehr frei bewegen und auf spontane Weise Luft machen können. Sie geben Worten ihren eigenen Rhythmus, ohne sich  von der Strenge einer grammatikalischen Schönsprache einengen zu lassen. Was so einfach dahin geplaudert wirkt, hat es allerding in sich. Die Sprache ist schnell und die Gedanken dahinter meist weit mehr als ein reimgewordener Zufall. Rap macht es möglich, unter dem Deckmantel des „einfach mal so daher Gesagten“ den eigenen Emotionen, Ängsten und Erfahrungen eine Stimme zu geben. Aber nichts desto trotz:

Gehört zu werden, erfordert Mut und Überwindung.

Die neun Jugendlichen stellten sich dieser Herausforderung. Damit der Sprung ins kalte Wasser leichter wird, gab PKT zum Aufwärmen erst einmal eine Einführung in das Genre Rap. Welche Themen, welche Texte und Begriffe, welche Reime und überhaupt, wie findet sich ein Takt, was ist ein cooler Rhythmus? Schon lagen sie auf dem Tisch, all die Fragen auf die es keine außer deine Antwort gibt. Um ein paar Grundlagen zu schaffen, wurde gemeinsam ein vorgegebener Text nach den raptauglichen Faktoren untersucht und dann gings los. PKT stellte Fragen zu ganz alltäglichen Dingen und persönlichen Vorlieben. Die Antworten sprudelten und die Jugendlichen fanden Freude daran, wie schnell sich doch ein Reim finden lässt. So entstand ihr erster kleiner Rapsong-Text aus dem Alltagsleben der Teilnehmenden und eines wurde deutlich: Alle essen gerne Döner, der macht das Leben schöner!

Die nächste Hürde stand bevor. Rhythmus finden, Stimme hörbar werden lassen. Zunächst wurde der Text in der Gruppe gesprochen, damit die Teilnehmenden die Scheu vor dem Klang des eigenen Sprechgesanges verlieren. Der Spaß ist sets ein guter Verbündeter des Mutes und so wagten sich dann doch alle mal ans Mikro. Nach drei Stunden hatten wohl alle das Gefühl, dass Rap eine sehr coole Ausdrucksform ist, die gar nicht viel Theorie braucht .... im Gegenteil, Rap lebt von der eigenen Stimmung und der Spontaneität, den Gedanken freien Lauf zu lassen.

 

Entstanden ist der Workshop, durch den Kontakt der Respekt Coaches zu Kofi Kanzi, der das Pilotprojekt „Rapper* ohne Grenzen“ ins Leben gerufen hat. Hierfür gehen Berliner Rapper*innen in Willkommensklassen und lehren Deutsch mit ihrer eigenen Musik. Die Idee dahinter: 1. Musik kennt keine Grenzen im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe und 2. Sprache kann auch auf spielerische Weise erlernt werden. In dem Projekt gehen zudem auch Vertreter*innen der Bereiche Sprach- und Kulturwissenschaft, Pädagogik, Mediendesign, Projektentwicklung und Promotion Hand in Hand. Alle verbindet ein Ziel:

Das Medium Musik kann auf eigene Weise einen chancengleichen Zugang zu Spracherwerb, Bildungssystem und Arbeitsmarkt ermöglichen.

Andrea Zimmer

… erweitert das Team „Meyer- Neumann“ zum Trio der Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. „Eigentlich wollte ich nur ein Jahr beim IB bleiben, mich aus der…

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