Suchtberatung beim IB

23.02.2022 Lesedauer 4 Min.

"Sucht ist eine Erkrankung und hat nichts mit Willensschwäche zu tun", sagt Heike Schlawin. Die Sozialpädagogin, die im Berliner Krisenhaus Schöneberg arbeitet, ist bereits seit 2005 offizielle Suchtberaterin beim IB. Im Laufe der Jahre hat sie einige Mitarbeiter*innen bei Suchtproblemen beraten. Am häufigsten ging es um den Konsum von Alkohol. Im Interview erzählt sie, wie Betroffene innerbetriebliche Unterstützung bekommen, wie eine Beratung abläuft und wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer Hand in Hand arbeiten.

Sucht ist ein gesellschaftliches Tabu, dabei handelt es sich längst um kein Randproblem. Betroffen sind viele Menschen mit ganz unterschiedlichem Suchtverhalten und verschiedenen Suchtmitteln. Nach repräsentativen Studien (Epidemiologischer Suchtsurvey 2018) sind 12 Millionen nikotinabhängig, 1,6 Millionen Menschen sind abhängig vom Alkohol und Schätzungen zufolge liegt bei 2,3 Millionen Menschen eine Medikamentenabhängigkeit vor. Rund 600.000 Menschen konsumieren Cannabis und andere illegale Drogen in problematischen Mengen und zirka 500.000 Menschen zeigen ein problematisches oder sogar pathologisches Glücksspielverhalten. Auch eine exzessive Internetnutzung kann zu abhängigem Verhalten führen: In Deutschland sind etwa 560.000 Menschen onlineabhängig.  (Quelle: Bundesministerium für Gesundheit)

››Sucht ist das höchste Maß an Unfreiheit.‹‹

Für die Betroffenen hat das Suchtverhalten gravierende Auswirkungen auf ihre Gesundheit, auf ihr Leben und auf Beziehungen - sowohl im privaten Bereich mit Familienangehörigen und Freunden als auch beruflichen Kontext. Sie versuchen viel, um die eigene Abhängigkeit zu verbergen, anstatt sich Hilfe zu suchen. Beim Internationalen Bund erhalten betroffene Mitarbeiter*innen im Bereich der Suchtintervention und Suchtprävention bereits seit vielen Jahren Unterstützung. Verankert ist dies in der Konzernbetriebsvereinbarung (KBV). Bundesweit gibt es beim IB viele geschulte Mitarbeiter*innen, die als ehrenamtliche Suchtberater*innen eine Anlaufstelle bei Fragen und Problemen sind. Beim IB Berlin-Brandenburg sind das aktuell drei Suchtberaterinnen: Heike Schlawin, Susanne Dünkel und Lea Heilig.

 

Liebe Frau Schlawin, bereits seit 2005 sind Sie Suchtberaterin beim IB. Was sind Ihre Aufgaben?

Als Suchtberaterin gehört es zu meinen Aufgaben, Kolleginnen und Kollegen bei Suchtproblemen zu beraten und zu begleiten. Gleichzeitig stehe ich auch Vorgesetzten beratend zur Seite, wenn es Fragen bei der Umsetzung der Konzernbetriebsvereinbarung (KBV) Suchtintervention gibt. In meiner Funktion nehme ich an der jährlichen IB-Fachtagung der Suchtbeauftragten teil und optional am Gesundheitsausschuss des IB Berlin-Brandenburg, welcher viermal im Jahr tagt. Unsere Arbeit sowie Informationen rund um das Thema Sucht stellen wir Suchtberater*innen teilweise auch den Mitarbeitenden und Teams vor, damit sie ein Bewusstsein für das Thema entwickeln und die Ansprechpartner*innen kennen. Wir sind also auch Multiplikator*innen.

Mit Heike Schlawin habe ich ausführlich über das Thema Sucht gesprochen. Im Interview berichtet sie über ihre beratende Tätigkeit, über die Verantwortung des Arbeitgebers, aber auch über die Eigenverantwortung der Betroffenen.

Welche Qualifikation benötigt man, um Suchtberater*in zu sein?

Um als Suchtberater*in tätig zu werden, ist eine qualifizierte Ausbildung erforderlich. Diese dauert in der Regel ein Jahr und kann berufsbegleitend gemacht werden. Die Kosten für die Ausbildung übernimmt der Arbeitgeber. Ich habe damals meine Ausbildung bei einer Kollegin IB-intern gemacht, welche als Suchttherapeutin ein sehr spannendes Projekt beim IB Mannheim geleitet hat. Einige Jahre später konnte ich nochmals eine Weiterbildung an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin machen. Darüber hinaus sind persönliche Eigenschaften wie Offenheit und Interesse an Menschen, Empathie, Geduld und eine positive Einstellung sehr nützlich für die Arbeit als Berater*in.

Wer kann sich an die Suchtberater*innen wenden?

Wir beraten alle Beschäftigten des IB: Kolleg*innen mit Suchtproblemen, Mitarbeiter*innen, die Rat im Umgang mit betroffenen Kolleg*innen suchen, sowie Vorgesetzte, die Unterstützung bei der Umsetzung der Betriebsvereinbarung benötigen. Wir verstehen uns auch als präventive Stelle. Deshalb können sich Mitarbeitende jederzeit mit Fragen rund um das Thema an uns wenden. Als Suchtberater*innen sind wir zur Verschwiegenheit verpflichtet: Alle Gespräche behandeln wir streng vertraulich. Die Inhalte der Gespräche werden auch nicht an Vorgesetzte weitergegeben, es sei denn, es wird von der Person gewünscht. Ansonsten berichten wir nur, dass Gespräche stattgefunden haben.

››Sucht ist eine Erkrankung und hat nichts mit Willensschwäche zu tun.‹‹

Wie laufen die Beratungen mit betroffenen Mitarbeiter*innen ab?

Mitarbeitende werden in der Regel von Vorgesetzten angehalten, Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich lade dann die Kollegin oder den Kollegen zunächst zu einem persönlichen Vier-Augen-Gespräch ein, möglichst an einem neutralen Ort außerhalb des Arbeitsumfeldes. In diesem Gespräch gebe ich allgemeine Informationen zum Thema Sucht und zeige Möglichkeiten der Hilfen auf, zum Beispiel Selbsthilfegruppen oder ambulante und auch stationäre therapeutische Angebote. Unsere Empfehlung lautet immer, sich eine Selbsthilfegruppe zu suchen, in der mit anderen Betroffenen Probleme und vor allem Auswege besprochen werden können. Zu beachten ist: Wir Suchtberater*innen sind keine Therapeuten, wir sind nur beratend tätig und können auf ein Netzwerk externer Anbieter oder Suchttherapeut*innen zugreifen und auch Kontakte vermitteln. Mit betroffenen Kolleg*innen bespreche ich auch die Konzernbetriebsvereinbarung Suchtintervention und zeige natürlich auch arbeitsrechtliche Konsequenzen auf, wenn keine weiterführenden Hilfen in Anspruch genommen werden.
Grundsätzlich versuche ich in den Beratungen zu vermitteln, dass ein Ausstieg aus der Sucht eine klare persönliche Entscheidung voraussetzt ‚es wirklich zu wollen‘ und dass es ein langer Weg werden wird. Bisherige Denkstrukturen zu verändern sowie Gefühle und Einstellungen anzupassen, gehören dazu. Voraussetzung dafür ist zu akzeptieren: ‚Die Sucht ist stärker als ich.‘ und ‚Die Sucht ist keine Willensschwäche, sondern eine schwere Erkrankung.‘ Erst wenn diese Akzeptanz vorhanden ist, kann eine Therapie gelingen.

Das Thema Sucht ist immer noch ein Tabu und Betroffene haben sicher Berührungsängste. Wie schaffen Sie es, dass sich die Personen öffnen?

Obwohl viele meist schon jahrelang unter ihrer Sucht leiden, kommen nicht alle freiwillig zum Beratungsgespräch, sondern weil sie vom Arbeitgeber dazu aufgefordert werden. Deshalb ist es mir besonders wichtig, gleich zu Beginn eine angenehme, vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Ich gebe den Betroffenen in den Gesprächen immer ein positives Feedback. Im Laufe der Jahre als Suchtberaterin habe ich einen sehr ressourcenorientierten Blick auf Menschen entwickelt: Ich schaue nicht auf die Fehler, sondern sehe die Stärken und die positiven Seiten. Darauf richte ich meinen Fokus und vermittle das auch den Menschen, die in meine Beratung kommen.

Ab wann spricht man überhaupt von Sucht und woran lässt sie sich erkennen?

Das ist eine ganz schwierige Frage und lässt sich leider nicht kurz und knapp beantworten. Generell trifft aber zu: Wenn ein Suchtmittel Probleme macht, ist Sucht das Problem. Das Suchtmittel wird zum Mittelpunkt des Lebens und hat absolute Priorität. Eine Suchterkrankung ist immer ein multifaktorielles Geschehen. Zu der körperlichen und genetischen Disposition einer Person kommen die familiären und sozialen Strukturen, in welche man eingebunden ist. Auch erlernter Umgang mit Problemen und schwierigen Phasen im Leben kommen erschwerend oder auch erleichternd hinzu und beeinflussen das Verhalten in Krisensituationen.
Ob aber jemand süchtig ist, lässt sich von außen oft schwer beurteilen. Süchtige Mensch sind genau so verschieden, wie alle Menschen verschieden sind. Es gibt aber Anzeichen, die häufig bei Menschen mit Suchtproblemen auftreten. Am deutlichsten werden sie beim Konsum von Alkohol sichtbar, zum Beispiel wenn jemand am Arbeitsplatz sichtlich torkelt und lallt, eventuell sogar nach Alkohol riecht. Aber auch ein verändertes Arbeitsverhalten, zunehmende Unzuverlässigkeit, sehr große Stimmungsschwankungen und exzessives Verhalten in allen Bereichen, sehr lange Pausen und häufige einzelne Fehltage können Hinweise sein. Süchtige Personen suchen sehr stark Bestätigung von außen, der Selbstwert wird häufig über Fremdbeurteilung bzw. Nutzwert definiert, daher ist ein ‚Nein‘ eher ein Fremdwort für sie. Es wird häufig viel Verantwortung für andere übernommen, nicht aber für sich selbst. Im Arbeitskontext sind die Veränderungen eher schleichend zu bemerken, sollten aber möglichst angesprochen werden, sobald sie auffallen.

Heike Schlawin (links) und ihre Kollegin Lea Heilig sind Suchtberaterinnen beim IB Berlin-Brandenburg. Foto: IB Berlin-Brandenburg

Welche Suchtarten kamen in Ihren Beratungen am häufigsten vor?

Tatsächlich war bei den betroffenen Kolleg*innen, die ich im Rahmen der KBV beraten habe, der Alkohol das am häufigsten genutzte Suchtmittel. Bei vielen Anfragen, die mir auch hinsichtlich von Auffälligkeiten bei Teilnehmer*innen gestellt wurden, waren alle möglichen Drogen sowie auch nichtstoffliche Süchte wie Medien-, Internet- oder Spielsucht Inhalt der Anfragen. Dabei ist wichtig zu betonen: es gibt nur eine Sucht, welche unabhängig vom Suchtmittel dieselben Auswirkungen auf betroffene Menschen hat und mit massiven psychischen, körperlichen und sozialen Folgen und häufig auch Verlusten einhergehen.

In der Konzernbetriebsvereinbarung (KBV) des IB ist von arbeitsrechtlichen Konsequenzen die Rede. Was bedeutet das genau?

In erster Linie dient die KBV dazu, Beschäftigten mit Suchtproblemen Hilfe anzubieten. Ziel ist, die Arbeitsfähigkeit zu erhalten bzw. wiederherzustellen, die Suchtbewältigung zu begleiten und eine Wiedereingliederung ins Arbeitsleben zu ermöglichen. Ein guter Verlauf dieser Zielsetzung ist nur mit der Unterstützung des Arbeitgebers möglich. Der IB verhält sich sehr kooperativ bei diesem Thema.
In der KBV sind Auflagen des Arbeitgebers definiert, zum Beispiel die Suchberatung des IB oder eines externen Anbieters in Anspruch zu nehmen und sich in einer Selbsthilfegruppe anzumelden. Hierfür müssen Betroffene Nachweise erbringen. Außerdem können gemeinsam mit der*m Vorgesetzten und gegebenenfalls mit der*m Suchtberater*in individuelle Vereinbarungen hinsichtlich des Berufsalltags getroffen werden. Das könnten zum Beispiel eine Verpflichtung für ein ärztliches Attest ab dem ersten Krankheitstag sein, die persönliche tägliche An- und Abmeldung beim Vorgesetzten, auch nach den Pausen, sowie eine Ablehnung rückwirkend gestellter Urlaubsanträge für Fehltage.

››Eine erfolgreiche betriebliche Suchtberatung und eine gute Umsetzung der Betriebsvereinbarung ist nur mit Unterstützung des Arbeitgebers und in guter Zusammenarbeit möglich.‹‹

Die erwähnten arbeitsrechtlichen Konsequenzen können unterschiedlich sein, je nach Tätigkeitsfeld und Arbeitsplatz. Unter Umständen kann eine bestimmte Tätigkeit nicht mehr ausgeübt werden, wenn andere Personen gefährdet sind. Zu den gravierenden Konsequenzen gehören verhaltensbedingte Abmahnungen und Kündigungen. Diese werden aber nur ausgesprochen, wenn sich betroffene Mitarbeiter*innen unkooperativ zeigen und sich wiederholt nicht an die Vereinbarungen halten. Auflagen und Konsequenzen werden ausschließlich von Vorgesetzten verfügt. Neben dem Anspruch auf Wiedereingliederung nach erfolgreicher Therapie haben Betroffene innerhalb eines Jahres auch Anspruch auf Wiedereinstellung nach verhaltensbedingter Kündigung. Dazu müssen sie mit einem ärztlichen Attest eine erfolgreiche Therapie nachweisen.

Was empfehlen Sie Mitarbeitenden, wenn sie eine Sucht bei einer Kollegin oder einem Kollegen vermuten oder bemerken?

Am besten ist es, die Kollegin oder den Kollegen direkt anzusprechen und das zu benennen, was vermutet wird. Das sollte nicht vorwurfsvoll, sondern ganz sachlich passieren. Wichtig ist es, der Person zu sagen, dass eine Verhaltensveränderung bemerkt wird, eine Vernachlässigung der Arbeit oder ein Fehlverhalten am Arbeitsplatz auffällt und dass sie sich Hilfe holen sollte. Möglichst sollte man sich nicht als „Symbiosepartner“ anbieten und nicht in die Rechtfertigungsschleifen des Gegenübers einsteigen.

Was empfehlen Sie Kolleg*innen, die bei sich selbst ein problematisches Konsumverhalten bemerken?

Wir Suchtberater*innen stehen jederzeit zur Verfügung und können relativ schnell Beratungsgespräche anbieten. Wenn Kolleg*innen nicht uns ansprechen wollen, sollten sie unbedingt eine Beratungsstelle aufsuchen. Dort kann eine Ambivalenzklärung Aufschluss auf die Frage geben: Bin ich schon süchtig?