Vor drei Jahren begann Ghazi seine kaufmännische Ausbildung in unserer Verwaltung in Berlin. Jetzt hat er sie mit Bravour abgeschlossen. Was erst einmal wenig ungewöhnlich klingt, ist keine Selbstverständlichkeit: Denn Ghazi kam 2015 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland. Ghazi war damals 15 Jahre alt. Heute ist er 21 und hat seine beruflichen Ziele fest im Blick.
Schon lange wollte ich mich mit Ghazi, unser Auszubildender im Berliner Verwaltungszentrum, zu einem persönlichen Gespräch treffen, weil ich von seinem Lebensweg gehört hatte und mehr darüber erfahren wollte. Leider haben Corona und die damit verbundenen Einschränkungen dazwischengefunkt. Nun hat der 21-jährige seine Ausbildung beendet und wir haben uns im Anschluss an seine bestandene Prüfung endlich getroffen.
Vor unserem Gespräch bat mich Ghazi, dass ich seinen richtigen Namen und Fotos ohne Maske nicht veröffentliche. Seiner Bitte komme ich selbstverständlich nach. Gerade bei Menschen mit Fluchthintergrund ist es uns besonders wichtig, sensibel zu berichten und die Privatsphäre in besonderem Maße zu berücksichtigen. Aus einem kurzen Interview ist am Ende ein sehr persönliches Gespräch über berufliche Perspektiven, Heimatgefühle, Rassismuserfahrungen und Toleranz geworden. Statt 20 Minuten (wie Ghazi annahm) unterhielten wir uns fast zwei Stunden. Hier kommt Ghazis Geschichte:
Ghazi ist ein ruhiger, aber keineswegs schüchterner junger Mann, eher bedachtsam, aufmerksam. Seine Aufgaben im Verwaltungszentrum kennt er inzwischen genau. Und er hilft dort, wo er gebraucht wird. Seine Kolleg*innen wissen seine Unterstützung zu schätzen und können sich auf ihn verlassen. Bevor Ghazi im August 2018 seine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement mit dem Schwerpunkt Rechnungswesen begann, absolvierte er einige Monate zuvor ein Schülerpraktikum. So konnte er in die Verwaltungsabläufe eines Sozial- und Bildungsträgers hineinschnuppern und die Mitarbeiter*innen und Vorgesetzten beim IB kennenlernen.
Im Berliner Verwaltungszentrum fühlt sich Ghazi mittlerweile zuhause. In den vergangenen drei Jahren durchlief er verschiedene Abteilungen und lernte unterschiedliche Bereiche kennen. „Debitoren, Kreditoren, Personal und Controlling“, zählt er auf. „Auch am Empfang habe ich immer wieder mal ausgeholfen“. Die Bandbreite einer kaufmännischen Ausbildung ist groß und letzten Endes entwickelt jede*r Auszubildende eine Vorliebe für einen Arbeitsbereich. Das war bei Ghazi auch der Fall: „In jedem Bereich gab es interessante Aufgaben; wenn ich einen Bereich wählen könnte, würde ich Kreditoren nehmen.“
Besonders gut gefiel Ghazi, dass er während der Ausbildung hin und wieder auch kleinere Projekte übernehmen und Vorschläge für die Automatisierung von Arbeitsabläufen einbringen durfte. Weniger mochte er hingegen, Belege für Verwendungsnachweise rauszusuchen, diese zu kopieren oder zu scannen. Hier wie auch in der öffentlichen Verwaltung wünscht sich Ghazi noch mehr Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen, um effizienter arbeiten zu können. Dennoch machte ihm die Ausbildung Spaß, nicht zuletzt, weil ihm seine Kolleg*innen und sein Ausbilder Steffen Wolter bei Fragen stets zur Seite standen. „Auch während der Prüfungszeiten habe ich Unterstützung bekommen und durfte zum Beispiel früher gehen, um zu lernen. Toll war auch, dass der IB Bücher und Ausbildungsmaterialien bezahlt hat und dass ich in Gleitzeit arbeiten durfte. Darauf würde ich in Zukunft bei einem anderen Job nicht mehr verzichten wollen.“
Nun hat Ghazi seine Ausbildung beendet. "Meine Prüfungen habe ich mit 1 bestanden", erzählt er mir. Ich will von ihm wissen, ob er stolz auf das ist, was er in den letzten Jahren erreicht hat. Mit dem Begriff 'Stolz' tut er sich etwas schwer: "Ich hatte immer ein Ziel vor Augen und wenn ich das erreicht hatte, habe ich mir ein neues gesteckt", erklärt mir Ghazi seine Motivation. Die war von Anfang an da und sein immerwährender Antrieb: auf seiner Flucht nach Europa, bei seiner Ankunft in Berlin, beim Deutschlernen in der Willkommensklasse, später in der Schule und während seiner Ausbildung. Der Weg dorthin war lang und nicht einfach, aber immer geprägt von Ghazis Willen, ihn weiterzugehen.
Ghazi stammt aus Damaskus. Dort lebte er mit seiner Familie. Bereits als Kind war er oft bei seinem Onkel im Geschäft; zunächst um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben, später um im Familienbetrieb mitzuhelfen. Bereits damals entdeckte Ghazi sein Interesse für Zahlen, Buchhaltung und Wirtschaft. Doch in seiner Heimat ließ der Krieg es nicht zu, dass er die Schule beenden, eine Ausbildung oder ein Studium beginnen und einen Beruf ergreifen konnte. Stattdessen floh Ghazi im Alter von zwölf Jahren aus Damaskus und lebte zunächst in einer anderen Region Syriens. Als die Lage dort auch immer gefährlicher wurde, verließ er 2015 das Land in Richtung Europa. Ghazi war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Als er Ende 2015 in Deutschland ankam, war er zunächst in Erstaufnahmelagern und Flüchtlingsunterkünften in Berlin untergebracht. Hier konnte er auch wieder zur Schule gehen. Auf dem Stundenplan standen aber nicht Mathematik, Physik oder Politik, sondern erst einmal nur Deutsch. In der Willkommensklasse lernte Ghazi gemeinsam mit anderen Geflüchteten und Zugewanderten ein Jahr lang Deutsch; jeden Tag.
Doch die täglichen Lektionen genügten ihm nicht. Deshalb besuchte er freiwillig einen weiteren Deutschkurs, um das B1-Sprachniveau zu erreichen. In der Schule wurde Ghazi von den Lehrer*innen manchmal unterschätzt. Das spornte ihn nur mehr an: "Ich wollte einfach beweisen, dass ich es kann." Das führte dazu, dass er viele Sachen doppelt und dreifach lernen musste. "Die Schulzeit war teilweise sehr anstrengend", erinnert er sich. Auch wenn sich das viele Deutschlernen nicht immer in guten Noten im Fach Deutsch widerspiegelte, waren die Anstrengungen nicht umsonst. Ghazi schloss die 9. Klasse mit der Berufsbildungsreife (BBR) und die 10. Klasse mit dem Mittleren Schulabschluss (MSA) ab.
Am Ende seiner Schulzeit empfahl ein Lehrer Ghazi, das Abitur zu machen; ein anderer riet zu einer Ausbildung. Ghazi entschied sich damals für die Ausbildung, immer im Hinterkopf, sein Abitur später noch machen zu können. Eine Entscheidung, die für ihn die Richtige war. „Es ist so ein tolles Gefühl, nichts mehr mit dem Jobcenter zu tun zu haben.“, erzählt er mir und führt weiter aus: „Die Ausbildung ist für mich eine Investition in meine berufliche Zukunft.“ Ich merke ihm seine Entschlossenheit an und frage ihn, wie es nach der Ausbildung für ihn weitergeht. „Ab 9. August gehe ich nochmal für ein Jahr zur Schule und mache mein Fachabitur mit dem Schwerpunkt Wirtschaft. Anschließend würde ich gerne studieren, vielleicht Wirtschaftsinformatik – das weiß ich noch nicht genau.“ Durch Ehrgeiz, Fleiß, einen starken Willen und Menschen, die ihn zur richtigen Zeit unterstützten, hat sich Ghazi ein Leben und eine berufliche Perspektive in Deutschland aufgebaut.
Dabei war sein Start in Deutschland, wie für viele geflüchtete Menschen, nicht leicht. Anfangs lebte er in einer Berliner Erstaufnahmeeinrichtung. Es folgten zwei weitere Unterkünfte in anderen Bezirken. Mit jedem Umzug musste Ghazi auch die Schule wechseln. Im Dezember 2017 erhielt er dann einen Platz im betreuten Jugendwohnen des IB am Mehringdamm in Kreuzberg. Als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling wohnte er bis März 2019 in der IB-Einrichtung und wurde von Sozialpädagog*innen der Erziehungshilfen (Hilfen zur Erziehung) begleitet und betreut. „Alleine das Gefühl, dass da jemand ist, an den ich mich wenden kann, war sehr gut.“ Trotzdem versuchte Ghazi viele Dinge selbst zu regeln: Schwierigkeiten in der Schule, Lern- und Schulaufgaben, Nebenjob. Anfangs fanden die Beratungen mit seiner Sozialpädagogin einmal pro Woche statt. Irgendwann genügte es, sich im 2-Wochen-Rhythmus zu treffen. Dennoch hatte die IB-Mitarbeiterin immer ein Auge auf Ghazi. Sie war es auch, die ihm vorschlug, das Schulpraktikum beim IB zu machen und daran eine Ausbildung anzuschließen. Diese Möglichkeiten, die sich ihm eröffneten, halfen Ghazi dabei, in Deutschland anzukommen.
"Mein größter Wunsch wäre, wieder ein Zuhause zu haben."
Dennoch musste er sich erst an die westeuropäische Kultur und die deutsche Mentalität gewöhnen: "In vielen Situationen wusste ich einfach nicht, wie ich mich verhalten soll". Mittlerweile hat er sich in Berlin eingelebt, versteht die Sprache und die Denkweise der Deutschen besser und weiß, wie er in Alltagssituationen reagieren kann. Freunde hat er in der Schule und in der Berufsschule gefunden. Mit einigen von ihnen fährt er oft nach Brandenburg zum Klettern. Das sei sein Hobby, sagt er. Aber auch Gitarre spielen, Joggen und Lesen gehören zu seinen Freizeitbeschäftigungen.
An Deutschland gefällt Ghazi „die Freiheit und dass man seine Meinung viel offener sagen kann. In Syrien ist das schwieriger. Ein Tabuthema ist zum Beispiel Religion.“ Aber kann Deutschland nach sechs Jahren wirklich eine neue oder zweite Heimat sein? Ich frage ihn und er beschreibt sein Gefühl so: „In Deutschland fühle ich mich wohl, aber es ist für mich noch keine Heimat; von Damaskus habe ich Albträume, deshalb ist das auch keine Heimat mehr für mich.“ In diesem Zusammenhang verrät mir Ghazi seinen größten Wunsch: „2012 habe ich mein Zuhause in Damaskus verlassen. Mein größter Wunsch wäre, wieder ein Zuhause zu haben.“ Wo das sein wird, weiß er nicht. Vielleicht ja in Deutschland?
Trotz der Freiheiten und Möglichkeiten, die Deutschland bietet, gibt es auch Dinge, die ihm nicht gefallen: „… der Rassismus“, sagt er. „Ich lebe seit sechs Jahren in Deutschland und habe schon viele rassistische Situationen erlebt und dass ich wegen meines Aussehens anders behandelt oder beschimpft wurde."
Das Thema Rassismus beschäftigt Ghazi aufgrund seiner persönlichen Erlebnisse sehr. Deshalb hat er an seiner Berufsschule das „Projekt International – Anti-Rassismus“ initiiert. Gemeinsam mit seinen Mitschüler*innen ging er der Frage nach: Woher kommen Vorurteile und wie geht man damit um? Dieses Projekt war nicht nur eine Aufgabe im Rahmen der Ausbildung, sondern für Ghazi auch eine Selbsterfahrung: „Bei diesem Projekt bin ich mir zum ersten Mal über meine eigenen Vorurteile bewusst geworden“. Heute kann er sie bei sich besser erkennen und reflektierter damit umgehen. Deshalb zeigt er in bestimmten Situationen auch Verständnis für das Verhalten anderer Menschen: "Bei manchen Menschen merke ich, dass sie es nicht so meinen. Dann sage ich auch nichts dazu, obwohl es mich verletzt. Bei manchen Menschen merke ich aber, dass sie ganz bewusst rassistische Dinge sagen, einfach weil sie es wollen.“
"Lass' uns über etwas fröhlicheres sprechen", bittet mich Ghazi, nachdem wir fast zwei Stunden über alle diese Themen geredet haben. Deshalb frage ich ihn zum Abschluss, welche seine Lieblingseissorten sind. "Mango, Vanille und Schokolade", verrät er mir, bevor wir an diesem heißen Sommertag und nach einem sehr bewegenden Gespräch auseinandergehen.
Ich bedanke mich sehr für Ghazis Bereitschaft, so offen über viele persönliche Themen gesprochen zu haben. Für sein Fachabitur, seine beruflichen Pläne und seinen weiteren Lebensweg wünsche ich ihm alles Gute, viel Erfolg und dass sein größter Wunsch in naher Zukunft in Erfüllung geht.
Das Verwaltungszentrum der IB Berlin-Brandenburg gGmbH befindet sich mitten in Friedrichshain, in der berühmt-berüchtigten Rigaer Straße. Hier arbeiten rund 60…
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