Spaziergang durch das jüdische Berlin

Andrea Zimmer 06.07.2022 Lesedauer 4 Min.

Wer langsam geht, kann viel entdecken, selbst oder gerade dort, wo man glaubt die eigene Stadt zu kennen. Dass sich in Berlin vielerorts Geschichten und Geschichte die Hand reichen, ist bekannt und doch eröffnete die Tour durch das Scheunenviertel dank der beiden vielwissenden Guides einige ungeahnt überraschende Rück- und Einblicke. Gemeinsam mit Kerstin Ewert und Niels Spellbrink begaben sich 40 Mitarbeiter*innen am Diversity-Tag auf eine äußerst kurzweilige und in der Tat vielfältige Zeitreise. Kaum am Hackeschen Markt gestartet, ließ die erste Überraschung nicht auf sich warten. Das hier als Scheunenviertel bekannte Gebiet rund um die neue Synagoge, links, rechts und  entlang der Oranienburger Straße heißt genaugenommen Spandauer Vorstadt. Das Scheunenviertel dagegen entstand im 18 Jhdt. auf dem Bülowplatz, heute Rosa-Luxemburg-Platz, auf dem die Volksbühne steht. Nix Scheune. Diesem Anfang folgend, war der Spaziergang reich an in vielerlei Hinsicht unglaublichen Geschichte*n.

... durch DAS jüdische Berlin?

Ein prägnanter Titel für eine Tour, aber wohl kaum mehr als ein grober Richtuingsweiser, denn wo oder was ist denn DAS jüdische Berlin? Erstmals überliefert ist, dass im 12 Jhdt. sich Juden (m/w/d seien bitte stets mit zu denken) im Klosterviertel, nahe des Roten Rathaus ansiedelten bzw. auf Wohlwollen der Herrschenden ansiedeln durften. Da ihnen für den eigenen Brotwerwerb nur das Kreditwesen und der Handel erlaubt war, kam es insbesondere in Krisenzeiten bereits damals immer wieder zu Vertreibung und Verfolgung, doch die jüdischen Menschen siedelten sich oft schnell wieder an. Als aber 1348/49 in Europa die Pest wütete, kam es zur ersten größeren Judenverfolgung in Berlin. Die Geschichte nahm ihren Lauf, über Jahrhunderte hinweg siedelten sich Juden in Berlin an, wurden vertrieben, kamen wieder.

Juden haben im Laufe der Jahrhunderte das geistige und kulturelle Erbe Berlins geprägt (siehe Karte des jüdischen Viertels berlin). Moses Mendelssohn, Fanny Mendelssohn, Rosa Luxemburg und Albert Einstein sind nur einige Namen. Nicht alle von ihnen lebten im Berliner Judenviertel, aber sie waren über alle Stadtteile Berlins verteilt. In den 1920er Jahren lebten etwa 170.000 Juden in Berlin. Die meisten von ihnen flohen nach 1933 oder wurden zur Auswanderung gezwungen. 1939 lebten noch rund 75.000 Juden in Berlin, bis am 18.10.1941 der erste "Sonderzug" (so der damalige Fachjargon) den Güterbahnhof Grunewald mit 1251 Juden verliess und die systematische Deportation der Juden aus Berlin begann. 55.000 Berliner Juden waren Opfer der Shoah, die meisten anderen flohen oder wurden vertrieben. Lediglich 9.000 von ihnen überlebten im Untergrund oder in einer Ehe mit einem nichtjüdischen Ehepartner.

Geschichte gilt es aufrecht zu erhalten! Denn aus ihr könn(t)en wir für die Zukunft lernen.

Neben den zahlreichen geschichtlichen Erläuterungen bewegten wir uns - wie es sich für einen Spaziergang gehört - sehr wohl auch fort - von Ort zu Ort. Die Lesedauer berücksichtigend werden hier nur einige Stationen in Worte gefasst.

 

Hackescher Markt... an der Spandauer Brücke.

Die Straßenschilder sind eng miteinander verbunden und gleichermaßen auch Wegweiser durch die Geschichte.
Im 17 Jhdt. stand hier ein Tor und öffnete den Weg durch die mittelalterliche Stadtmauer zur Befestigungsanlage Berlins. Entsprechend seiner Funktion in einem Festungswerk, besaß das Tor eine verbindende Holzbrücke.
Ende des 19 Jhdt. wird der alte Berliner Festungsgraben zugeschüttet und anstelle der Stadtmauer entstand die erste Berliner Stadbahnstrecke. 11 Kilometer und 11 Bahnhöfe ließen die Reise von West nach Ost zu einem kurzweiligen Vergnügen werden, das in erster Linie den Aktienhändlern vorbehalten war. Passend dazu, hieß die Station am heutigen Hackeschen Markt: "Bahnhof Alte Börse".

 

Rosenstraße ... Heidereutergasse

Dicht an dicht liegen hier gewissermaßen ein Zeichen von Anfang und eine Mahnung vom Ende.

Heidereutergasse 4: Hier entstand 1712 die erste Synagoge und sie war zugleich auch das erste öffentlich sichtbare Zeugnis für ein jüdisch-religiöses Leben in Berlin. In der Pogromnacht des 9./10. November 1938 wurde sie nicht zerstört. Ein Grund dafür war wohl die geschützte Lage inmitten eines Hofes, der von allen vier Seiten mit Häusern umgeben war. Am 20. November 1942 fand der letzte Gottesdienst in der Alten Synagoge statt, wenig später wurde sie völlig zerstört. Heute befindet sich an dieser Stelle eine Grünfläche, auf der eine Gedenktafel und der mit Steinen markierte Umriss der Synagoge an dieses Gotteshaus erinnern.
Das Denkmal „Frauenprotest 1943" von Ingeborg Hunzinger erinnert hier an den überwältigenden Frauenaufstand in der benachbarten Rosenstraße.

Die Rosenstraße 2-4  
Innerhalb von sechs Tagen wurden im Februar 1943 rund 8.000 Menschen deportiert, darunter mehr als 2000, größtenteils männliche Juden, die in einer "Mischehe" lebten. Bis dahin verschont wurden sie nun separiert und in einem Sammellager in der Rosenstraße 2-4, einem Gebäude der Jüdischen Gemeinde, zusammengepfercht. Am 27. Februar gaben Frauen und Kinder ihrer Sorge um die Männer eine Stimme, die nicht zu überhören war. Eine Woche lang protestierten hunderte Frauen Tag und Nacht - bis zur Freilassung ihrer Männer.

 


Große Hamburger Straße - »Straße der Toleranz und des Todes«

Einträchtig beieinander liegen hier die jüdischen Orte, das katholische St. Hedwigs-Hospital und der berühmte Friedhof der protestantischen Sophienkirche.
Wie durch ein Wunder blieb trotz der angeordneten Tilgung aller jüdischen Inschriften und Symbole über dem Portal des Hauses Große Hamburger Straße 27 die Inschrift »Knabenschule der Jüdischen Gemeinde« erhalten. Eine Schule, die uns mit Zäunen, Kameras und Wachpersonal ein Bild zeigt, das seine Betrachter*in nachdenklich machen muss. Das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn - ehemals Knabenschule, später Mittelschule - ist heute eine staatlich anerkannte Privatschule der jüdischen Gemeinde.

Die Vergangenheit verweigert jede Form von Toleranz und spricht Todesurteile.

1942 ließ das Reichssicherheitshauptamt die Schule räumen. Das Gebäude und das benachbarte, erste jüdische Altersheim wurden 1942 als »Judenlager« der Gestapo in ein Gefängnis mit Gittern und Scheinwerfern umgewandelt. Von hier aus wurden mehr als 55 000 Juden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert.
Direkt gegenüber spricht der alte, von 1672 bis 1827 genutzte jüdische Friedhof, seine eigene Sprache.
Einst war er Begräbnisplatz für 50 Familien von Wiener Schutzjuden, die 1671 nach Berlin kamen und vor dem Spandauer Tor angesiedelt wurden. 1943 verwüsteten SS-Leute den Friedhof und schändeten die ausgegrabenen Gebeine der Toten. In den letzten Kriegstagen wurden auf dem Friedhof 2427 Kriegstote in Massengräbern beigesetzt.
In den 1970er Jahren beseitigte das Ost-Berliner Stadtgartenamt die übrig gebliebenen jüdischen Grabsteine. Zur Erinnerung an die tragischen Geschehnisse blieben ein symbolisches Grabmal für Moses Mendelssohn, ein Sarkophag aus zerstörten Grabsteinen und die Skulptur "Jüdische Opfer des Faschismus" mit der Will Lammert ein sichtbares Zeichen setze. Der Friedhof selbst ist eine grüne Oase, fast idyllisch und irgendwie totenstill.    
Vermutlich ruhen hier 3000 Kriegsopfer – davon sind etwa 2000 namentlich bekannt – neben geschätzten 3000 hier bestatteten jüdischen Verstorbenen.

Rosenthaler Straße 39 - das Haus Schwarzenberg!

 Ein Haus, in dem zwei besondere Persönlichkeiten uns noch heute die Geschichte ihres mutigen und überzeugten Widerstands - das klingt fast paradox - beeindruckend lebensnah, vor Augen führen. Otto Weidt und Anne Frank.

Museum "Blindenwerkstatt Otto Weidt"
Selbst erblindet, eröffnete er 1940 im Hinterhof dieses Hauses eine Blindenwerkstatt als Besen- und Bürstenbinderei. Dem eigenen Ohrenleiden war es zu verdanken, dass der überzeugte Pazifist sich dem Wehrdienst im Weltkrieg entziehen konnte. Sein Betrieb aber galt als "wehrwichtig", da Otto Weidt seine Produkte hauptsächlich an die Wehrmacht verkaufte. Während des Holocaust stellte sich Weidt schützend vor seine zumeist jüdischen Mitarbeiter und rettete mehreren Juden durch gute Beziehungen, Bestechung, Passfälschung und mit Unterstützung von Hedwig Porschütz, das Leben. Zu ihnen zählte auch Inge Deutschkron, die sich später für die Gründung des Museums stark machte und damit einen wichtigen Ort der Erinnerung  erschaffen hat. Sie selbst erhielt 2018 die Ehrenbürgerwürde Berlins und verstarb im März 2022 im Alter von 99 Jahren.

Anne Frank Zentrum
Anne Frank wurde 1929 als Kind jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren und floh mit ihre Familie 1933  nach Amsterdam. Nach Einmarsch der deutschen Truppen versteckte sich die Familie von 1942 bis 1944 in einem Hinterhaus, wo Anne Frank ihr weltberühmtes Tagebuch schrieb. Das Versteck wurde verraten und die Familie Frank deportiert. Anne starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen im Alter von 15 Jahren. Durch die Veröffentlichung ihres Tagebuchs ist Anne Frank zum Symbol für Millionen von Jüdinnen und Juden geworden, die der rassistischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.

Ein Haus, zwei Gedenkstätten, die jederzeit einen eigenen, längeren Besuch wert sind.

Andrea Zimmer

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