Flucht: Entscheidung für's Leben

Andrea Zimmer 22.02.2022 Lesedauer 4 Min. Min.

Waed Issa wurde 1986 Syrien geboren, verbrachte eine ganz normale Kindheit, machte sein Abitur, studierte Jura und hatte eine klare Vorstellung von seiner Zukunft. Als Jurist, so glaubte er, kann er Menschen zu ihrem Recht verhelfen und die Welt steht ihm offen. Im Dezember 2010 aber kam sein Einberufungsbefehl, ein Befehl, der sein Leben veränderte. 2015 entschied er sich gegen den Krieg, gegen Verfolgung, gegen die Unterdrückung. Er wollte in Frieden leben und seine Zukunft selbst bestimmen. Kaum vorstellbar, dass Waed Issa bereits 3 Jahre später beim IB als Sozialarbeiter und Koordinator in den Übergangswohnheimen Stahnsdorf tätig wird. 

Waed Issa erzählt mir seine Geschichte – eindringlich, nachdenklich, lebensfroh.

Aufgewachsen ist er in Salamiyya, einer kleinen Stadt im Osten Syriens und er mochte sein Land bis zu jener Zeit, da der Krieg und die Befehle Assads über sein Leben entschieden. Dabei hatte er schon viel erreicht und seine Zukunft vor Augen. Waed wollte heiraten und als Jurist eine wichtige und gute Aufgabe erfüllen. Nichts sprach dagegen, denn bereits während seines Studiums in Damaskus lernte er Alesar, die Frau seiner Träume kennen. Sein Studium schloss er 2010 erfolgreich ab und begann als Praktikant in einer Anwaltskanzlei. Wenige Wochen später kam das Schreiben der "Abteilung für Rekrutierung", seine Einberufung in die syrische Armee. Zunächst nicht ungewöhnlich, da in Syrien für jeden Mann eine Wehrpflich von 18 Monaten gilt. Im Dezember 2010 tritt er seinen Dienst an und am 15. März 2011 begann der syrische Bürgerkrieg. Umgehend verpflichtete Baschar al-Assad alle Soldaten auf unbestimmte Zeit. Waed Issa wusste, dass seine Zukunft nun in den Händen eines unberechenbaren Despoten liegt. Waed war in einer zunächst verhältnismäßig ruhigen Region im Nordosten des Landes stationiert. In Qamishli hatten die Kurden die Regierungstruppen weitestgehend vertrieben und es entstand faktisch eine autonome Enklave. Als aber der IS im 80 km entfernten al- Hasaka einfiel, wurde die Lage bedrohlich.

"Der Krieg bestimmt unsere Zukunft. Alles, was wir geschafft haben, wird unnütz sein. Wenn wir überleben, dann nicht so."

Waed blieb bis 2015 in der Armee. Seine Frau hatte inzwischen ihr Mathematikstudium abgeschlossen, sie wollte Lehrerin werden. Immer deutlicher aber wurde, dass ihr Wissen in einem Land, in dem der Krieg alles überschattet, nichts mehr zählt. Sie beschlossen zu fliehen, auch wenn der Preis in jder Hinsicht sehr hoch war. Die Flucht kostet viel Geld, aber sie kann vor allem ihr Leben kosten und in jedem Falle verlieren sie Familie und Freunde, denn eine Rückkehr konnte es nicht mehr geben. Sobald er die Armee verlässt, wird er als Deserteur von der syrischen Armee und der Geheimpolizei verfolgt. Aber ihr Entschluss stand fest. Seine Frau konnte recht unproblematisch in die Türkei fliegen, denn im Gegensatz zu ihm besaß sie eine Pass. Für Waed war die Flucht weit schwerer, auch wenn die Türkei von Qamishli aus zum Greifen nah war. Als Deserteur ohne Pass war jede Grenze eine tödliche Gefahr. Am 26. Juli 2015 gelang es ihm mit Hilfe eines Schmugglers die syrische Grenzkontrolle zu umgehen.

"Am 26. Juli 2015 betrat ich die Türkei. Ich war frei. Egal, was kommt, Assad hat keine Kontrolle mehr."

Erst in Izmir traf er seine Frau wieder und gemeinsam setzten sie ihre Flucht fort - zu Fuß, mit dem Auto, im Schlauchboot, im Zug ... noch immer lagen rund 3.000 km vor Ihnen, die sie nicht unabhängig von Schleusern hätten schaffen können. In Syrien hatten Waed und Alesar lange gespart und zuletzt ihre Wohnung verkauft. Das musste reichen.  

Die Flucht war riskant und kraftzehrend, aber in Ungarn war auch die Angst wieder präsent. Sie rannten oft längere Strecken durch die Dunkelheit und waldiges Gebiet, außer Sichtweite. Obwohl Waed unterwegs seinen Bauchgürtel mit den wenigen Papieren, die sie hatten verlor, gab es keine Chance umzudrehen. Sie mussten Ungarn möglichst schnell hinter sich lassen. In Österreich konnten sie wieder etwas durchatmen, hier schienen ihnen die Menschen keineswegs bedrohlich. Weiter ging es nach Deutschland - von München nach Eisenhüttenstadt, wo sie Antrag auf Asyl stellen konnten. Von dort wurden sie nach Potsdam, in eine Gemeinschaftsunterkunft des IB, weiter geleitet. Die Flucht ist zu Ende, Waed und Alesar stehen am Anfang ihres neuen Lebens. Und sie tun das, was ihnen in all den Wochen Kraft gegeben hat, sie bestimmen ihr Leben selbst.

Beeindruckend ehrgeizig lernen sie gemeinsam die deutsche Sprache und die deutsche Lebensart. 2017 kommt eine Tochter zur Welt, aber auch sie hält die Eltern nicht von ihren ehrgeizigen Plänen ab. Nach bestandener C2 Prüfung fokussiert sich der Blick auf die berufliche Zukunft. Alesar wollte Lehrerin werden, sie ist es geworden. Da in Deutschland dafür zwei Hauptfächer nötig sind, hat sie zur Mathematik noch Englisch studiert und unterrichtet jetzt an einer Potsdamer Schule. Waed ist Jurist. Und durchaus wurde sein Jurastudium in Deutschland anerkannt, es erlaubt ihm aber nicht, hier als Jurist zu arbeiten. Dazu hätte er das Studium nahezu von vorn beginnen müssen. Statt dessen beschließt er, Soziale Arbeit zu studieren - der Grund dafür beeindruckt mich: Waed war überwältigt von all den Hilfsangeboten in Deutschland, davon, dass jedem Menschen in jeder Situation und mit jedem Problem geholfen wird. Institutionen wie Caritas, AWO, IB waren ihm völlig fremd. Es gibt  finanzielle Hilfen, Stipendien, Unterkunft, ärztliche Hilfe, Beratung und überall Menschen, die eine Tür öffnen. In Syrien gibt es nur die Familie, die hilft soweit es geht.

"Wie kann das sein, warum kann Deutschland so viel Hilfe anbieten?"

Darauf wollte Waed Antworten finden, er wollte das System der sozialen Hilfe verstehen und selbst ein Teil davon werden. Vielleicht könnte er mit seiner Arbeit irgendwann zurückgeben, was er und seine Frau bekommen haben. Er studierte 3 Jahre an der FH Potsdam und schrieb seine Bachelor Arbeit zum Thema „Trauma bei geflüchteten Menschen in Gemeinschaftsunterkünften“. Seine eigene Geschichte und das Schreiben der Arbeit ließen Waed wieder einmal ein klares Ziel setzen.
Er wollte in einer Unterkunft für geflüchtete Menschen arbeiten.

" Wieder betrat ich eine Einrichtung des IB, aber nicht mehr als Flüchtling sondern als Mitarbeiter."

Kaum hatte er seine Abschlussarbeit abgegeben, stöberte er schon mal in verschiedenen Jobportalen nach Stellen im Bereich der Flüchtlingshilfe. Davon gab es erfreulich viele und unter anderem bewarb er sich auch beim Internationalen Bund. Thomas Kaminsky, Bereichsleiter der IB Flüchtlingsarbeit Potsdam-Mittelmark, hat glücklicher Weise sehr schnell reagiert. Waed Issa stellte sich vor, hinterließ Eindruck und begann am 01.10.2020 in den Übergangswohnheimen Stahnsdorf als Sozialarbeiter.

____ Ein gutes Team! Waed Issa & Anne Rebecca Düsterhöft-Wallner _____
_____ Mit diesen Paragraphen kennt sich Waed Issa bestens aus. _____

Er hat sich schnell voller Neugier und Motivation eingearbeitet und das bis dato noch recht neue Team rund um die Leiterin, Anne Rebekka Düsterhöft-Wallner, wahrlich bereichert. Bereits 1 Jahr später vertraut sie ihm die Koordination beider Häuser in Stahnsdorf an und er macht mehr als nur gute Arbeit. Waed spricht in jeglicher Hinsicht die Sprache vieler Bewohnenden in Stahnsdorf und vermag so, Hürden, Missverständnisse und Widerstände abzubauen und gleichermaßen Vertrauen und Motivationen aufzubauen. Den Schwerpunkt seiner Arbeit beschreibt er so: "In Stahnsdorf ist es uns wichtig, Nähe zu den Bewohnenden aufzubauen. Je mehr wir über ihre Geschichte, ihre Wünsche und Ängste wissen, desto zielgerichteter können wir helfen. Es ist wichtig, die Bestimmungen und Gesetze zu kennen – insbesondere, wenn es den Aufenthaltsstatus und damit verbundenebetrifft. Das ist sehr komplex. Als Jurist suche ich manchmal auch nach Lücken oder Grauzonen oder besser noch, ich spreche  mit den richtigen Menschen in Ämtern und Behörden.

... Oft findet sich im Dialog eine Lösung, die gleichermaßen recht und menschlich ist." 

Nicht unerwähnt darf bleiben, dass Alesar 2020 neben all den Aufgaben und Zielen noch ein zweites Kind zur Welt gebracht hat. Das klingt so beiläufig, ist aber bemerkenswert. Bei all dem, was Alesar und Waed in so kurzer Zeit erreicht haben, scheint die Organisation eines Familienlebens wohl ein Leichtes für die beiden. Chapeau! ... auf ganzer Linie!

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