Afghanische Ortskräfte haben viele Jahre für die deutschen Einsatzkräfte gearbeitet. Jetzt werden sie zur Zielscheibe der Taliban. Wir tragen Verantwortung - menschlich und politisch!
Juni 2021: Die letzten Einheiten der Bundeswehr haben Afghanistan endgültig verlassen, der 20 Jahre dauernde Einsatz ist Geschichte, aber die Sorge um das Land bleibt und wächst. Die Taliban haben die Teilnahme an Friedensgesprächen aufgekündigt und bereits weite Teile des Landes zurück erobert. Die Regierung ist geschwächt, die Sicherheitslage instabil und die Menschen sind vielerorts durch Krieg und Verfolgung bedroht. Viele von ihnen, sogenannte Ortskräfte, hatten die deutschen Einsatzkräfte maßgeblich und mutig mit ihrer Arbeit sowie Orts- und Sprachkenntnissen unterstützt. Nach dem Abzug der Bundeswehr werden sie und ihre Familien nun mehr denn je zur Zielscheibe der Taliban.
Über die Frage, „Welche dieser gefährdeten Afghanen sind für eine Übersiedlung nach Deutschland qualifiziert?“, wurde im Kreise der Innenminister von Bund und Ländern schicksalhaft langatmig beraten. Das Ergebnis, ein wichtiges, denn Deutschland nimmt nun doch weit mehr Kräfte auf, als ursprünglich geplant. Hunderte Afghanen und deren Kernfamilien - insgesamt über 2.000 Menschen - werden nun gemäß „Königsteiner Schlüssel“ auf die Bundesländer verteilt. 115 von ihnen finden im IB Übergangswohnheim Marienfelder Allee ein erstes, weit entferntes, aber sicheres Zuhause.
So auch Sayed Sarwar Shahzad und seine Familie. Sayed ist 36 Jahre alt, studierte in Kabul „Law & Politics“ und war 14 Jahre für die Bundeswehr als „lokaler Arbeiter“ tätig.
„Ganz am Anfang, also 2006, habe ich beim Aufbau vom Camp Marmal bei Masar-e-Scharif geholfen. Ein riesiges Feldlager. Mit der Zeit verbesserte ich mein Englisch und lernte auch langsam Deutsch. So konnte ich dann für die Soldaten übersetzen“, erzählt er. "Viele Afghanen sprechen nichts anderes als Farsi, also braucht es überall einen Übersetzer. Ich konnte helfen und die Arbeit war gut". Besonders wichtig, aber auch schwierig, fand Sayed seine Arbeit im Ausbildungszentrum Kabul. Dort, wo die afghanische Armee (ANA), geschult wurde, das Land militärisch selbst zu verteidigen. Die längste Zeit war er im Militärlazarett und lernte viele neue Worte z.B. für Medikamente oder Krankheiten.
„Es war eine gute Zeit. Wir hatten fast nie Angst.“
Das änderte sich mit Abzug der UN Truppen. Mit jedem Kilometer, den die Taliban jetzt wieder vorrückten, wurde die Lage bedrohlicher. Sayeds Antrag auf Ausreise war bearbeitet und er hielt den so wichtigen Umschlag bereits in den Händen. Darin Pässe und Visa, auf dem Umschlag ein handschriftlicher Vermerk "Berlin". Obwohl noch einiges ungeklärt war, buchte Sayed den erstbesten Flug, denn inzwischen standen die Taliban bereits 8km vor Mazar-e Scharif. Am 20. Juni konnte er mit seiner Frau und den vier kleinen Kindern nach Deutschland fliegen.
„Ich bin dankbar, mit meiner Familie in Sicherheit zu sein“, sagt er und schweift mit den Gedanken in die Heimat. "Afghanistan ist nun sich selbst überlassen."
Noch immer sind viele Ortskräfte im Land und die Gefahr wächst. Selbsternannte Gotteskrieger feiern sich und ihre Siege. Wird Deutschland seiner Verantwortung gerecht? 100 Container mit Material verlassen das Land. Gut verpackt auch ein 27t schwerer Gedenkstein. Die Ortskräfte aber müssen Anträge stellen, auf Pass und Visum hoffen, ihre Flüge selbst bezahlen und sind hier zunächst ohne eigene Mittel auf jedwede Hilfe angewiesen. In der Marienfelder Allee zumindest tun die Mitarbeiter*innen vor Ort, was immer sie tun können. Sozialarbeiter*innen geben erste Orientierung und helfen bei Anträgen, Formularen und Behördengängen. Die kleinen Kinder finden erste Spielgefährten und -gefährtinnen in der Wohnheimeigenen Kita, die größeren bestimmt auch recht schnell Anschluss. Schritt für Schritt vorwärts auf einem sicherlich recht langen Weg in das eigene, selbstbestimmte Leben.
Vieles bleibt noch zu suchen: Wohnung, Arbeit, Kita- oder Schulplatz, Freunde u.v.m.
Eines aber haben Sayed und seine Fanmilie bereits gefunden: Sicherheit!
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